In der Europäischen Union ist eine „tiefgreifendere Debatte“ über die Zukunft der Landwirtschaft notwendig. Zu diesem Ergebnis kommt eine Gruppe von Wissenschaftlern der ETH Zürich und der Universität Wageningen veröffentlichten Studie. Ausgangspunkt für die Untersuchung sind die Bauernproteste in Europa Ende 2023 und Anfang 2024.
Politik und Verbände sollten sich eingehender mit der Frage befassen, welche Art von Lebensmittelsystem die europäischen Bürger unterstützen wollten, heißt es in der Studie. Zudem müsse geklärt werden, wer die Kosten für die negativen ökologischen, gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen der derzeitigen Praktiken tragen solle.
Nachdrücklich plädieren die Wissenschaftler dafür, die geforderte Debatte in den Strategischen Dialog (SD) der EU-Kommission zu integrieren. Erforderlich seien substanziellere politische Strategien, um das Lebensmittelsystem an den planetarischen Grenzen auszurichten und gleichzeitig die Kosten gerecht zu verteilen und kurzfristige Hürden zu überwinden. Dabei wird eingeräumt, dass der Übergang zu nachhaltigeren Produktionsverfahren zu kurzfristigen Produktions- und Gewinneinbußen führen könne. Allerdings wird unterstrichen, dass der Schutz von Böden, Klima und Biodiversität entscheidend für die langfristige Produktivität und wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Agrarsektors sei.
Mangel an Folgemaßnahmen
Als eine der unmittelbaren Reaktionen auf die Proteste wird die Rücknahme umstrittener Maßnahmen wie der Verordnung über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln (SUR) gesehen. Nach Einschätzung der Autoren sind dadurch allerdings auch wichtige Entwicklungen für den Übergang zu nachhaltigeren Agrar- und Ernährungssystemen verhindert worden. Eine große politische Herausforderung besteht der Studie zufolge darin, „über vereinfachende Dichotomien hinauszugehen und eine Vision für ein Lebensmittelsystem zu entwickeln, das Synergien zwischen den Interessen der Landwirte und den Umweltzielen begünstigt“.
„Wahrgenommener Druck“ auf Einkommen
Laut den Autoren hatten die Proteste indes national „höchst unterschiedlichen Auslöser“. Genannt werden der „wahrgenommene Druck“ auf die landwirtschaftlichen Einkommen, strengere Umweltvorschriften sowie Handelskonkurrenz.
Die erste Protestwelle wurde gemäß der Studie größtenteils durch nationale Debatten über politische Maßnahmen ausgelöst. Als Beispiel wird u.a. die vorgeschlagene Abschaffung der Agrardieselbeihilfen in Deutschland genannt.
In Spanien, Frankreich und Griechenland wurden länderspezifische Probleme wie erhöhte Produktionskosten aufgrund von Dürre und Einschränkungen der landwirtschaftlichen Wassernutzung als Auslöser ausgemacht. Die polnischen und bulgarischen Landwirte sind laut Studie wegen der ukrainischen Getreideimporte auf die Straße gegangen; in Belgien und Frankreich war auch der als unlauter empfundene Wettbewerb durch das Handelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten ein Grund.
Mangelnde Anpassungsfähigkeit
Neben diesen unmittelbaren Auslösern wurden den Wissenschaftlern zufolge im Zuge der Proteste auch grundlegendere und systemische Bedenken aus dem Berufsstand vorgebracht. Insbesondere die zunehmenden Umweltambitionen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sowie die Farm-to-Fork-Strategie hätten die Unzufriedenheit der Landwirte verstärkt. Laut den Studienautoren werden die hier festgeschriebenen Standards als zusätzliche Kosten für die Landwirte empfunden. Inflation und die seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine besonders stark gestiegenen Preise für Betriebsmittel wie Energie und Düngemittel hätten dies noch verschärft. Betont wird allerdings auch, dass es vielen Landwirten „an der notwendigen Anpassungs- und Transformationsfähigkeit mangelt, um wirksam zu reagieren“. AgE