Obwohl die Gesamtinflation in Europa - vor allem getrieben durch den Rückgang bei der Energieinflation - zuletzt zurückgegangen ist, bleiben Lebensmittelpreise in Europa weiterhin hoch. Die Inflation bei Nahrungsmitteln, Alkohol und Tabak hat sich in Europa im Jahresvergleich sogar um 1,5 Prozentpunkten (pp) auf knapp 15 % im ersten Quartal 2023 erhöht. In Deutschland war der Anstieg im gleichen Zeitraum sogar noch stärker um mehr als 2 pp auf über 22 %. Das wird nach Einschätzung des weltweit führenden Kreditversicherers Allianz Trade auch noch eine geraume Zeit so bleiben.
‘Wir gehen davon aus, dass Lebensmittelpreise noch mindestens ein weiteres Quartal hoch bleiben, bevor dann eine rasche Normalisierung einsetzt’, sagt Andy Jobst, Inflationsexperte und Leiter Makro- und Kapitalmarktresearch bei Allianz Trade. ‘Lebensmittelpreise sind aktuell allerdings einer der Haupttreiber der Gesamtinflation. Sie machen fast ein Drittel der Teuerung aus und in Deutschland sogar über 40 % - im vergangenen Jahr war es noch weniger als ein Fünftel.’
Die Teuerungsrate bei Lebensmitteln in Europa dürfte 2023 durchschnittlich 8 % betragen, bevor sie im nächsten Jahr deflationär wird (-3,8 %). Die Inflation bei Nahrungsmitteln ist jedoch aufgrund struktureller Faktoren von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Deutschland ist diese durch die hohe Dichte an Discountern und dem hohen Anteil an verarbeiteten und verpackten Lebensmitteln wesentlich höher als bspw. in Frankreich, Italien oder Spanien. Sie dürfte 2023 bei durchschnittlich über 12 % bleiben. Einen langsamen Abwärtstrend sehen die Allianz Trade Experten erst ab Mitte 2024. ‘Für das nächste Jahr sind die Aussichten bei der Teuerung von Lebensmittel besser’, sagt Jobst. ‘Allerdings bedeutet das in vielen Fällen eher eine Stagnation der Preise. Durchgesetzte Preiserhöhungen werden erfahrungsgemäß nur selten zurückgenommen.’
Woher kommt also die Teuerung der Lebensmittel? Die globalen Rohstoffpreise sind es schon mal nicht: Sie haben sich zuletzt deutlich abgekühlt und sind von ihren Höchstständen im Jahr 2022 stark zurückgegangen. Mais ist zwar noch etwa 30 % teurer als Anfang 2021 und Düngemittel sind weiterhin etwa 50 % teurer als noch vor ein paar Jahren, aber Weizen und Sojabohnen notieren inzwischen auf dem Niveau von 2021.
‘Tatsächlich sind die Betriebskosten der Lebensmittelproduzenten und -einzelhändler ein Grund für das wachsende Ungleichgewicht zwischen vorgelagerten Rohstoff- und nachgelagerten Lebensmittelpreisen - allerdings nicht der einzige’, sagt Aurélien Duthoit, Branchenexperte bei Allianz Trade. ‘Wir beobachten auch, dass insbesondere Lebensmittelhersteller hungrig nach Profiten sind. Sie haben die Preise wesentlich stärker erhöht als die Einzelhändler.’ Diese übermäßigen Gewinnmitnahmen der Unternehmen tragen auch einen kleinen, aber trotzdem bedeutenden Anteil zur Lebensmittelinflation im vergangenen Jahr bei. Bei den Betriebskosten waren vor allem Energiepreise der Treiber mit einem Plus im Jahr 2022 von 145 % im Vergleich zum Vorjahr beim Großhandelsstrom und +43 % beim Öl. Aber auch Verpackungsmaterial (+24 % für Glas-, +23 % für Papier-, +18 % für Metall und +16 % für Kunststoffverpackungen) fielen ins Gewicht sowie die Lohnkosten (Lohnstückkosten im Einzelhandel +5 %).
‘Seit Mitte Mai 2022 können etwa 10 % der Verteuerung der Lebensmittel in Europa in unserem Inflationsmodell nicht durch die historische Dynamik, Erzeuger- und Energiepreise erklärt werden’, sagt Jobst. ‘Das ist deutlich mehr als vor der Pandemie und dem Ukraine-Krieg. Damals lag dieser ‘unerklärte Teil’ bei weniger als 3 %. Noch eklatanter ist die Situation in Deutschland: Mehr als ein Drittel des jüngsten Anstiegs der Lebensmittelpreise hierzulande können nicht mit den traditionellen Risikotreibern erklärt werden. Es scheint zunehmend Anzeichen für Gewinnmitnahmen zu geben sowie unzureichenden Wettbewerb in den Bereichen mit besonders starken Preissteigerungen wie z.B. bei Herstellern von Milchprodukten und Eiern aber auch bei nicht-saisonalem Gemüse und Obst.’