Eine aktuelle Studie der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) und der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU) zeigt, dass Pflanzenschutzmittel (PSM) nicht auf der Anbaufläche bleiben, sondern im ganzen Tal bis in Höhenlagen zu finden sind. Die festgestellten PSM-Mischungen der vielen Stoffe können sich schädlich auf die Umwelt auswirken.
Der konventionelle Anbau setze bei der Bekämpfung von Schädlingen wie dem Apfelwickler und Pilzkrankheiten, die Schorf auf den Früchten auslösen, vor allem auf synthetische Pflanzenschutzmittel, die mit Gebläse verteilt werden. Dadurch sei vor allem bei Wind eine hohe Abdrift in die Umgebung möglich. Lange gingen selbst Fachleute davon aus, dass die synthetischen Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im Wesentlichen in der Apfelanlage verbleiben, dort also, wo sie aufgebracht wurden und maximal noch im nahen Umfeld zu finden sind. Grundlage dieser Annahme seien jedoch veraltete und weniger empfindliche Messmethoden und dass PSM abseits der Produktionsflächen einfach nicht erhoben wurden, erklärt Umweltwissenschaftler Carsten Brühl von der RPTU in Landau.
Mit der modernen Analytik von heute könne man bis zu 100 PSM gleichzeitig und auch in geringen Konzentrationen messen. Tatsächlich zeigen Studien, dass sich Pflanzenschutzmittel deutlich über die landwirtschaftlich genutzte Fläche ausbreiten und etwa Insekten in Naturschutzgebieten belasten (Brühl et al 2022, Scientific Reports) oder in der Umgebungsluft fernab der Landwirtschaft zu finden sind (Zaller et al. 2022, Science of the Total Environment). Im Vinschgau wurde bereits vor einigen Jahren ein Rückgang von Schmetterlingen auf den Bergwiesen beobachtet. Fachleute vermuteten einen Zusammenhang mit dem Einsatz von PSM im Tal, aber es gebe kaum Studien zur Frage, wie weit aktuelle PSM tatsächlich transportiert werden und wie lange sie in Boden und Pflanzen verbleiben. Dies sei der Anlass für Brühl und seinen Kollegen Johann Zaller von der BOKU gewesen, im Vinschgau die Verteilung von PSM in der Umwelt zu untersuchen.
„Aus ökotoxikologischer Sicht ist das Vinschgauer Tal besonders interessant, da man im Tal hochintensiven Anbau mit vielen PSM hat und auf den Bergen empfindliche alpine Ökosysteme, die teilweise auch streng geschützt sind“, erläutert Brühl. Gemeinsam mit seinem Team sowie Fachkollegen der BOKU und aus Südtirol hat er die PSM-Belastung auf Landschaftsebene untersucht – entlang des ganzen Tals bis in Höhenlagen. Den Verbleib von PSM auf so großer Skala systematisch aufzunehmen und darzustellen sei ein Novum in den Umweltwissenschaften. Für ihre Studie haben die Forscher insgesamt elf sogenannte Höhentransekte entlang der gesamten Talachse untersucht, Strecken, die sich vom Talboden von 500 m Seehöhe bis auf die Berggipfel mit 2.300 m erstrecken. Entlang dieser Höhentransekte entnahm das Team auf Höhenstufen alle 300 m Untersuchungsmaterial. An insgesamt 53 Standorten wurden so Pflanzenmaterial gesammelt und Bodenproben gezogen.
Insgesamt nehmen die PSM in den Höhen und mit Abstand zu den Apfelplantagen zwar ab, aber selbst im oberen Vinschgau mit kaum Apfelanbau haben die Forscher noch mehrere Substanzen in Mischungen im Boden und in der Vegetation nachgewiesen. „Wir fanden die Mittel in entlegenen Bergtälern, auf den Gipfeln und in Nationalparks. Dort haben sie nichts verloren“, unterstreicht Brühl. Die Stoffe verbreiten sich aufgrund der teilweise starken Talwinde und der Thermik im Vinschgau weiter als man aufgrund ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften annehmen könnte. Bereits in den gemessenen niedrigen Konzentrationen können PSM zu sogenannten sublethalen, also nicht direkt tödlichen Effekten bei Organismen führen, die nicht Ziel der Bekämpfung sind. Für Schmetterlinge könnte das bspw. eine Verringerung der Eiablage bedeuten, was dann zu einer Populationsreduktion führe. Nur an einer einzigen Stelle haben die Forscher in den Pflanzen keine Wirkstoffe gefunden – interessanterweise gibt es an jener Stelle auch sehr viele Schmetterlinge.
Insgesamt 27 verschiedene PSM fanden die Forscher in der Umwelt, betonen aber zugleich, dass sie ihre Messungen Anfang Mai durchgeführt haben und dass im Verlauf der Wachstumssaison bis zur Ernte weitere Mittel zum Einsatz kommen. Durchschnittlich fast 40 Anwendungen von PSM während der Saison seien üblich. Damit seien komplexere Mischungen mit mehreren Substanzen und immer wieder auftretende höhere Konzentrationen wahrscheinlich. In fast der Hälfte aller Boden- und Pflanzenproben konnten die Forscher das Insektizid Methoxyfenozid messen, dass in Deutschland seit 2016 aufgrund der Umweltschädlichkeit nicht mehr zugelassen ist. Wie sich chronische Belastungen durch PSM mit Mischungen in niedrigen Konzentrationen auf die Umwelt auswirken, ist bisher kaum bekannt; auch wisse man bislang wenig über ein mögliches Zusammenwirken verschiedener Substanzen. Bei der Umweltrisikobewertung im Rahmen des europäischen Zulassungsverfahrens werden Mischungen nicht bewertet, sondern die Stoffe werden einzeln betrachtet. „Mit der Realität der Anwendungen auf dem Acker oder in der Obstplantage und dem Verbleib in der Umwelt hat dies nichts zu tun“, so Brühl.
Wie weit verbreitet die PSM-Belastung im Boden und in den Pflanzen war und dass selbst Nationalparks betroffen seien, die eigentlich zum Schutz gefährdeter Pflanzen und Tiere eingerichtet wurden, beunruhige die Forscher. „Die Konzentrationen, die wir fanden, waren zwar nicht hoch, aber es ist erwiesen, dass PSM das Bodenleben schon bei sehr geringen Konzentrationen beeinträchtigen“, erklärt Bodenexperte Johann Zaller von der BOKU. Außerdem fand das Team immer einen Cocktail aus verschiedenen PSM, deren Wirkungen sich möglicherweise verstärken. „Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Technik der PSM-Ausbringung im Apfelanbau stark verbesserungswürdig ist, sonst würden nicht so viele PSM abseits der Apfelanlagen gefunden werden“, ist Zaller überzeugt. Außerdem sei es unwirtschaftlich, wenn die PSM nicht gezielt auf die Zielorganismen aufgebracht werden.
Mögliche Maßnahmen wären eine Reduktion oder gar ein Verbot des PSM-Einsatzes, zumindest der in entlegenen Gebieten nachgewiesenen Stoffe, schlussfolgern die Forscher aus ihren Untersuchungsergebnissen. Im Gegenzug sei es wichtig, Bewirtschaftungspraktiken zu forcieren, die auch die Nützlings-Schädlingsinteraktionen, die sogenannte funktionale Biodiversität in der Apfelanlage und in der näheren Umgebung fördern. Gemeint sind damit bspw. naturnahe und blütenreiche Grasländer verteilt in der Landschaft, um den Gegenspielern von Apfelschädlingen einen Lebensraum zu bieten. Darüber hinaus müsste ein systematisches Monitoring eingeführt werden, das Messungen an verschiedenen Stellen übers Jahr vorsieht, um den ganzjährigen PSM-Eintrag abschätzen zu können.
Die Verantwortung für die Verringerung des PSM-Einsatzes liege nicht nur bei den Apfelbauern, sondern auch bei den großen Supermarktketten, so die Forscher: Diese könnten eine Akzeptanz von nicht ganz so perfekt aussehenden Äpfeln fördern.
Aus der beobachteten Verbreitung in der gesamten Landschaft schließt Carsten Brühl: „Wir brauchen Regionen, in denen Pflanzen und Tiere nicht mit diesen bioaktiven Substanzen kontaminiert sind. Eine PSM-reduktion – auch mit großen Gebieten ohne den Einsatz von synthetischen PSM – und gleichzeitige Ausweitung des biologischen Anbaus ist zur Reduktion der Landschaftsbelastung dringend notwendig. Unsere Ergebnisse zeigen, dass es drängt, jetzt zu handeln, wir haben leider keine Zeit mehr.“